Zu Beginn
Mein Kontakt mit indischer Spiritualität verlief von Anfang an zweigleisig. Das heißt, dass ich von Anfang an gleich mit den beiden großen "verfeindeten" Traditionen Indiens Kontakt hatte. Auf der einen Seite standen die theistischen Vaiṣṇavas, auf der anderen Seite standen die Lehrer aus der Tradition des monistischen Śaṅkara.
Dass dieser Kontakt nicht nur "heilig" oder rein "geistig" war und ist, versteht sich auch von selbst. Selbst der Guru, der Lehrer, hat bisweilen noch eine Schattenseite, die er entweder gut versteckt, oder die er offen lebt. Das offene Ausleben dieser Schattenseite fand ich leider bei den wenigsten Lehrern. Aber dennoch war jeder Kontakt fruchtbar, und sehr lehrreich.
Lernte ich doch, dass es nicht unbedingt auf die philosophische Richtigkeit einer Lehre ankommt, als vielmehr auf die innere Haltung und die Ernsthaftigkeit, die man beim Begehen eines Weges an den Tag legt. Und auch wenn ich heute viele Lehren zurückweisen muß, weil ich sie als falsch oder unlogisch betrachte, so bin ich dennoch den Lehrern dieser "falschen" lehren dankbar, denn ab und zu ist es der Holzweg, den man selbst gehen muß, um von ihm den richtigen Weg unterscheiden zu lernen. Letztenendes hatte aber auch jeder Holzweg seine "Wahrheit", seinen Wert und vor allem seinen Sinn. Auch Holzwege formen die Persönlichkeit und selbst wenn der Holzweg durch noch so dunkles Dickicht führte, so war es die eine Sonne, die eine Wahrheit, die das Sehen des Weges erst möglich machte. Lernte ich doch, dass es nicht unbedingt auf die philosophische Richtigkeit einer Lehre ankommt, als vielmehr auf die innere Haltung und die Ernsthaftigkeit, die man beim Begehen eines Weges an den Tag legt.
 
Die Anfeindungen, welche die unterschiedlichen Traditionen Indiens seit Jahrhunderten pflegen, steht den Anfeindungen, die Katholiken gegenüber Protestanten in Europa haben in nichts nach. Man hat zwei Möglichkeiten, damit umzugehen:
Man spielt dieses Spiel "Meine Tradition ist besser wie deine" mit, und wird ein treuer Anhänger und fanatischer Verfechter der eigenen Lehre. Sozusagen ein heiliger Verfechter von unheiligen Schlammschlachten. Oder man hat noch die andere Möglichkeit:
Man nimmt diese Verfeindungen als Möglichkeit und Beispiel, um wirkliche Gelassenheit zu entwickeln. Nur wer wie ein Paulus sagen kann, dass er den Griechen ein Grieche ist und den Juden ein Jude, der weiß, dass all die eigenen Lehren und Weltanschauungen relativ sind, dass sie Stückwerk sind und dass sie hinfortgetan werden, sobald man das Eine, das Absolute erreicht hat.
Der Buddha sprach in diesem Zusammenhang von den verschiedenen Möglichkeiten, einen Fluß zu überqueren: der eine schwimmt, der andere baut sich ein Floß und setzt damit über, der andere wandert am Ufer entlang und gibt einem Fährmann ein paar Rupies und gelangt so ans andere Ufer; nur der Dumme jedoch wird nach dem Übersetzen das Floß oder das Boot samt Fährmann mit sich nehmen und sich nicht trennen von den Hilfsmitteln der Flußüberquerung.
So sind die vielen Wege letztenendes nichts als Konstrukte, Landkarten, die einem helfen, ans Ziel zu kommen. Es gibt gewiss Landkarten, die dem einen liegen, und dem anderen nicht. Eine Karte aus Google-Maps hat ihren Sinn, ich komme damit zurecht, und finde sie praktisch, klasse und treffend, weil sie mich zum Ziel führt. Die Strichzeichnung auf einem abgerissenen Zettel, die vielleicht mein Nachbar bevorzugt, ist nichts für mich. Ihr fehlt es an Struktur, an Detailtreue, an Genauigkeit; aber mein Nachbar mag sie. Er hasst die exakten Karten aus Google-Maps. Ja, und meine Freundin, ist zufrieden, wenn sie eine Beschreibung bekommt, in der Details auftauchen, die mich nie interessieren würden: „Das blaue Haus, und dann zwei Straßen weiter, da ist dann ein großer Baum, eine Eiche…“ Das gibt es in Google-Maps nicht, aber dennoch ist auch diese Beschreibung zielführend – für sie! Wer möchte jetzt sagen, welche Beschreibung die bessere wäre? Kann man das überhaupt?
Der Weise hingegen erkennt in jeder Form der Spiritualität das selbe Grundmuster und die Idee dahinter, dass alles nur Landkarten sind, die nur ein einziges Ziel haben, nämlich zum Ziel zu führen. Und dort angelangt, brauchen wir die Karte nicht mehr. Und so sind die Landkarten ein Mittel zu einem höheren Zweck. Niemals identisch mit dem Ziel, aber das Ziel abbildend. Nur der Dumme verwechselt den Finger, der auf den Mond zeigt, mit dem Mond selbst.