ad Darśana
Die sechs orthodoxen Philosophiesysteme der Hindus

Nyāya

Ebenso wie Sāṃkhya und Yoga ein Schwestersystem bilden, so bilden auch Nyāya und Vaiśeṣika ein Doppelsystem innerhalb der sechs orthodoxen hinduistischen Philosophie. Während Nyāya sich um eine Methode des Argumentierens bemüht, und der Frage nachgeht, wann ein Argument richtig ist, so geht das Vaiśeṣika-System allen anderen Fragen nach, die in der Philosophie wichtig sind. Hierunter fallen unter anderem ethische Fragen, metaphysische Fragen aber auch methodologische und ontologische Fragen.
Die Kategorienlehre des Nyāya-Vaiśeṣika besteht zum einen aus den Kategorien des Nyāya, welche vor allem eine Aufzählung von Methoden und Regeln des Argumentierens ist, sowie aus den Kategorien des Vaiśeṣika, welche, ähnlich wie in der Sāṁkhya-Tradition, eingebunden sind in ein erkennendes, Welt beschreibendes Verstehen und Bestreben nach Befreiung.
Der religiöse Kontext des Nyāya-Vaiśeṣika-System ist die Spiritualität des Śivaismus. Während die Nyāya-Anhänger in die traditionellen Gruppen der brahmanischen Śaivas gehören, sind die meisten Anhänger des Vaiśeṣika Anhänger der Paśupatas , einer Tradition, die im Westen ein Pendant zu den Kynikern darstellt.
Im Folgenden wird zuerst auf die Kategorien des Nyāya eingegangen, die, wie schon erwähnt eine Aufzählung von Methoden des Argumentierens darstellen. Dies aber ausschließlich unter der Prämisse der Frage: Was ist eine richtige Aussage?
Im Nyāya-Sūtra wird zum ersten Mal der fünfgliedrige Syllogismus präsentiert. Der fünfgliedrige Syllogismus ist typisch für indische Argumentationen. Zum Vergleich: Der aus Griechenland von Aristoteles begründete Syllogismus ist „nur“ dreigliedrig!

Indischer Syllogismus:

1. These (pratijñā): Auf dem Berg ist Feuer.
2. Begründung (hetu): Weil dort Rauch zu sehen ist.
3. Beispiel (udahāraṇa): Wo Rauch ist, dort ist Feuer (wie in der Küche, anders als im See).
4. Anwendung (upanaya): Es ist Rauch auf dem Berg zu sehen.
5. Schlussfolgerung (nigamana): Also ist auf dem Berg Feuer.

Griechischer Syllogismus

1. Erste Prämisse (Obersatz): Alle Menschen sind sterblich.
2. Zweite Prämisse (Untersatz): Alle Griechen sind Menschen.
3. Schlussfolgerung: Alle Griechen sind sterblich.

Nyāya war von Anfang an auf das Heil ausgerichtet. es ging ihm nicht darum, einfach Regeln des Wissens, der Wissensverteidigung etc. zu beschreiben, sondern dieses Wissen musste befreien. Die ontologischen und metaphysischen Grundlagen hierzu liefert das Schwestersystem Vaiśeṣika.
In seiner Erkenntnistheorie und Logik setzte das Nyāya eigene Maßstäbe, die von den meisten Systemen der indischen Philosophie akzeptiert wurden, insbesondere die Lehre von den "Erkenntnismitteln" (pramanas) und die Lehre der "16 Kategorien" (padarthas).
Wissen, welches zur Befreiung (apavarga) notwendig ist, setzt vier Bedingungen voraus:

1. Das Subjekt, den "Erkennenden" (pramata),
2. Das Erkenntnisobjekt (prameya), hier gibt es im Nyāya zwölf:
 
a. das Selbst (ātman)
b. der Körper (śarīra)
c. die Sinne (indriya)
d. die Sinnesobjekte (artha)
e. der Intellekt (buddhi)
f. der Geist (manas)
g. Aktivität (pravṛitti)
i. Unzulänglichkeit, Mangel (doṣa)
h. Wiedergeburt (pretyabhāva)
j. Frucht (phala)
k. Leid (duḥkha) und
l. Erlösung (apavarga)
3. Das Erkennen (pramiti)
4. Das Erkenntnismittel (pramāṇa), Wovon es vier gültige gibt:
 
a. Wahrnehmung (pratyakṣa)
b. Schlussfolgerung (anumāna)
c. Vergleich (upamāna)
d. Verbale Mitteilung (śabda)

Das System der Logik, bzw. Argumentation hat den Sinn, gültiges Wissen zu ermöglichen. Gültiges Wissen jedoch führt zu niḥśreyasa, also zu dem, über dem hinaus es kein Besseres gibt. Dieser Zustand bedeutet Befreiung von Schmerz, Geburt, Handlung, Fehler und Irrtum. Schmerz basiert auf Geburt, Geburt auf Handlungen, Handlungen auf falsche Identifikationen und diese basieren auf dem Irrtum. Eine Möglichkeit zum Eingreifen in dieser Kausalkette bietet eben der Ansatzpunkt des Irrtums. Dieser kann durch rechtes Erkennen und gültiges Wissen berichtigt werden. Die sechzehn Kategorien des Nyāya geben hierzu eine Möglichkeit, den Irrtum durch gültiges Wissen zu ersetzen und somit falsche Identifikationen aufzulösen, damit die Handlungen und somit auch Geburt und den daraus resultierenden Schmerz. Dies jedoch bedeutet aber Erlösung.
Die sechzehn Kategorien sind aber folgende:

1. Erkenntnismittel (pramāṇa)
2. Erkenntnisobjekt (prameya)
3. Zweifel (saṃśaya)
4. Absicht (prayojana)
5. Beispiel (dṛṣṭānta)
6. Satz (siddhānta)
7. Glieder einer Schlußfolgerung (avayava)
8. Überlegung (tarka)
9. Sichere Entscheidung (nirṇaya)
10. Diskussion (vāda)
11. Argumentationsstrategie (jalpa)
12. Kritik (vitaṇḍā)
13. Scheinargumente (hetvābhāsa)
14. Sinnverdrehungen/Unterstellungen (chala)
15. Irreführende Einwände (jāti)
16. Widerlegung/Niederlage (nigrahasthāna)

Nyāya-Sūtra in der Übersetzung von Walter Ruben