Ṣad Darśana
Die sechs orthodoxen Philosophiesysteme der Hindus
Mit dem Ende der Hochkultur des Veda etablierten sich in Indien verschiedene Denkrichtungen und philosophische Systeme.
Allen gemein ist, dass sie mit den "Trümmern" der Veda-Kultur, bzw. auf diesen, etwas neues kreierten. Der Veda ist tot, es lebe der Veda. Indien hat es schon immer geschafft, kulturelle Neuerungen in einer Art und Weise zu etablieren, in der das Alte und Vergange nicht etwa völlig abgeschafft wird, sondern weiterlebt und in veränderter, angepasster Form tradiert wird.

Diese kulturelle Änderung, um die es hier geht, ist der Niedergang der Veda-Religion. Einer Religion, die keine Tempel kennt, sondern heilige Opferplätze, die immer aufs Neue ausgemessen und abgegrenzt werden. Die Veda Religion, ist eine Religion der Nomaden, lokaler Clanfürsten, deren Reichtum in Viehherden gezählt wurde. Städte waren zwar bekannt, aber nicht wichtig. In vage abgegrenzten Landstrichen zogen die reichen Viehzüchterclans umher. Die Götter waren meist männliche Götter, durch den heiligen Gesang und die reine Dichtkunst der Brahmanen zum Opfer geladen, um dort ihren magischen Handel mit den Menschen zu begehen. Die Priesterkaste war die mächtigste soziale Gruppe in dieser viergliedrigen Gesellschaft. Denn nur der opferkundige Priester weiß um die richtigen Zeiten, die geeigneten Augenblicke und die unzähligen Formeln, Mantras und Lobpreisungen, die nötig waren, um die Götter in den Opferbezirk zu holen. Die nötigen Gesten und Darreichungen waren ebenso ein geheimes Wissen der Brahmana-Priester, wie die Kenntnis des Veda und die diversen Observanzen, die es einzuhalten galt.

Mit der Verstädterung Indiens, bzw. mit der Aufgabe des Nomadentums war der kulturelle Boden für diese Gesellschaft weggetan. Gleichzeitig machten sich verschiedene Spiritualtraditionen daran, ihren Weg einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Und zu all diesen Veränderungen gab es noch die Kraft der nichtvedischen Kulte Indiens, die plötzlich wieder an die Oberfläche traten, und ihren gewaltigen Beitrag zu einem philosophischen Denken und Leben leisteten. In diese Zeit fällt die Entstehung der verschiedenen Askesebewegungen. Die einen hielten auf den ersten Blick am Veda fest, die anderen verwarfen ihn völlig. Yoga und das dem Yoga verschwesterte Philosophiesystem des Sāṃkhya ließen viele Kulte und asketische Bewegungen entstehen. Ebenso gediehen die Anschauungen des Tantra. Die Hochgötter von einst verschwanden in der Bedeutungslosigkeit. Andere, unwichtige vedische Götter traten an die leeren Plätze, die einst von Agni, Varuṇa, Mitra und Indra besetzt waren. Die neuen Götter hießen Viṣṇu, Brahmā und Śiva. Und mit diesen alten, neuen Götter kamen auch deren Gemahlinnen, Gespielinnen und deren Kinder: Lakṣmī, Rādhā, Pārvatī, Gaṇeśa, Skanda...

In dieser Zeit formierten sich nach und nach die sechs orthodoxen Philosophiesysteme, die es heute im Hinduismus gibt. Mindestens zwei dieser Schulen - Yoga und Sāṃkhya - entstammen vermutlich der Zeit, in der es die Veda-Kultur gab. Es gibt sogar Theorien, die besagen, dass Yoga eine antivedische Gegenbewegung zur Kultur des Veda gewesen ist.
Daneben stehen die heterodoxen Systeme, wie etwa der Buddhismus, der Jainismus, die Cārvākas (Materialisten) oder viele tantrische Gruppierungen. Heterodox sind diese Traditionen deshalb, weil sie entweder die Gesellschaftsform der Kasten oder den Veda ablehnten, oder beides. Oder es wurde jede Form einer Metaphysik als Schwindel und Brahmanenlüge abgetan, wie es bei den Cārvākas gewesen ist. Nicht jedes der damals bekannten Systeme ist heute noch lebendig. Sogar unter den orthodoxen Systemen haben es nur der Vedanta und das Yoga und mit ihm (zumindest theoretisch) das Sāṃkhya überlebt. Es gibt heute weder eine lebendige Tradition von Vaiśeṣika-, Nyāya- oder Mimāṃsāphilosophie. Ebenso sind die Cārvākas ausgestorben. Der einzige Text, der heute aus dieser Tradition noch erhalten ist, ist das Buch Tattvopaplavasiṁha von Jayarāśi Bhaṭṭa aus dem 8. Jahrhundert. Dieses Werk gilt als einzig erhaltene Quelle zur Cārvāka-Philosophie. Im 13. und 14. Jahrhundert wird diese Schule noch im Sarva-Darśana-Saṅgraḥ, einem Kompendium der zu dieser zeit noch existierenden Philosophioeschulen Indiens erwähnt und diskutiert. Der Autor des Sarva-Darśana-Saṅgraḥ, Madhāvācārya, sieht in den Cārvākas vor allem Logiker, deren einziges Erkenntnismittel die sinnliche Wahrnehmung ist. Sie seien antiklerikal, antimetaphysisch, atheistisch und ihr Lebensziel sei das Glück (indische Epikuräer?) und der Wohlstand. Den letzten bekannten Auftritt hatten Cārvāka-Philosophen 1578 bei einer Philosophenkonferenz am Hofe des Großmoguls Akbar, wo sie zur Verbesserung der Gesetzgebung und des allgemeinen Wohlstandes beitrugen.
Indien wäre nicht Indien, wenn es nicht die Erinnerung - und die ist bisweilen sehr deutlich und klar - an diese Systeme tradiert hätte. So sind etwa die Anschauungen des Sāṃkhya allgegenwärtig in den Schriften des Yoga und des Tantra. Ebenso werden die Hauptpunkte der indischen Logik, des Nyāya noch heute weitergegeben und unterrichtet. Und im Falle des Nyāya ist es sogar so, dass ausgerechnet die heterodoxe Tradition des Buddhismus diese orthodoxe Schule weitergeführt hat.

Eines ist hier sicher ganz klar geworden: Es gibt orthodoxe Philosophiesysteme und unorthodoxe Philosophiesysteme. Die orthoxen Systeme werden hier in Kürze dargestellt und beschrieben.

Es sind sechs an der Zahl, daher auch der Name Ṣad Darśana, das wörtlich übersetzt sechs (ṣad) Betrachtungen/Beobachtungen/Philosophien (darśana von driś = sehen) meint.