Ṣad Darśana
Die sechs orthodoxen Philosophiesysteme der Hindus

Yoga

„Das Wort Yoga erweckt bei den meisten westlichen Lesern Vorstellungen, die wenig mit dem zu tun haben, was Yoga ursprünglich und eigentlich ist. Es scheint daher notwendig, zu den eigentlichen Wurzeln dieses Phänomens menschlicher Spiritualität zurückzukehren.“
Sensationslust und Profitgier haben über Yoga die unsinnigsten Meinungen verbreitet;
Was ist also Yoga? Das Wort Yoga entstammt dem Sanskrit und bedeutet wörtlich „Joch“, im Sinne von Anschirren, Vereinigung, in Verbindung bringen. Das, was hier Verbunden werden soll, ist in den verschiedenen Traditionen immer etwas anderes gewesen. Für die theistisch ausgerichteten Brahmaṇas der verschiedenen Traditionen (Śrī-Vaiṣṇāvas, Mādhvachāryas, Gauḍiyās usw.) bedeutet diese Vereinigung die Vereinigung mit Gott oder mit Gottes Reich. Für die Advaitins war es die Vereinigung der Einzelseele (ātman) mit dem Absoluten (brahman). Für die Buddhisten bedeutet Yoga zuerst einmal die Vereinigung mit dem Wissen, das frei macht von allem Leid. Während für die Hīnayāna-Buddhisten die Befreiung in der Freiheit von den bindenden dharmas liegt, ist für die Mahāyāna-Buddhisten diese Freiheit die Freiheit von den bindenden Sichtweisen (für die Mādhyamikas die Freiheit von den bindenden Vorstellungen, für die Yogācāras die Freiheit von der bipolaren Scheinwirklichkeit). In allen Fällen bedeutet Vereinigung hier, dass entweder eine Sicht von Welt eingeschmolzen wird in eine einheitliche Wirklichkeit, indem man sich anschirrt an eine höhere Realität (Gott, brahman) oder an ein Wissen, das dieses Einschmelzen bewerkstelligen kann.
Die klassische Definition, was denn Yoga ist, entstammt aus den Yoga-Sūtras des Patañjali: „yogaś citta-vṛtti-nirodaḥ.“ – „Yoga ist (yogaś) das Nichtwirbeln (nirodaḥ) der Gedanken/Bewusstseinsinhalte (vṛitti) im Bewusstsein (citta).
Yoga ist das Schwestersystem des Sāṃkhya. Man kann sagen, dass Yoga ein theifiziertes Sāṃkhya ist, „[d]enn hier [im Yoga] wird wieder der Gottesbegriff (īśvara) eingeführt und Gott als besonderer puruṣa, der frei von Karman und Unwissenheit, vielmehr allwissend und ewig ist, definiert. Neu sind auch der Atombegriff für die Materie und der Momentbegriff für die Zeit. Daß, wie das Sāṃkhya lehrt, die Zeit eine Qualität der Materie ist, verwirft der Yoga und geht damit wieder einen Schritt zurück. Zeit ist für ihn nur ein Ablauf an Momenten.“ Somit vertritt der Yoga über die Zeit dieselbe Sicht wie der Buddhismus.

Die Anfänge des Yoga reichen vermutlich bis in die vorarische Induskultur zurück. Man hat aus dieser Zeit viele Figuren gefunden, die eindeutige Yogahaltungen aufweisen. Die Verbindung der vorarischen Yogatechniken mit dem Geist der indoarischen Kultur geschah wohl während der Upaniṣadzeit. In den älteren Upaniṣaden, wie etwa der Chāndogya-Upaniṣad, der Bṛhad-Āraṇyaka-Upaniṣad oder der Śvetāśvatara-Upaniṣad und der Maitrāyanī-Upaniṣad werden entweder Atemtechniken, oder die Idee, dass in der Einheit mit dem ātman, als dem Prinzip aller Dinge, die Erlösung besteht, verkündet. Diese Einheit wird Yoga genannt.

Während der Upaniṣadzeit finden die vorarischen Yogatechniken Anwendung zur Erreichung des Ziels der Upaniṣads, nämlich die Verbindung des individuellen ātmans mit dem höchsten brahman. In dieser Zeit gibt es verschiedenste und viele unsystematisierte Techniken und Vorgehensweisen, um dieses Ziel zu erreichen. „In nachvedischer Zeit ist die Yogapraxis zu einem förmlichen System mit eigenem Lehrbuche (den Sūtras des Patañali) fortgebildet worden. Das Yoga-Sūtra besteht aus vier Kapiteln:

I. Samādhi Pāda
Im zweiten Vers des ersten Kapitels gibt Patañjali seine berühmte Definition bzw. das Ziel des Yoga an:
yogaś citta-vṛtti-nirodhaḥ
Danach erfolgt eine Beschreibung des menschlichen Geistes (citta) mit Methoden, diesen mittels Meditation und Konzentration zu beruhigen. Der Nennung der neun Hindernisse, wie Krankheit oder Faulheit, folgt eine Beschreibung der verschiedenen Arten von Samādhi.

II: Sādhana Pāda
Im zweiten Kapitel werden die Ursachen des Leidens (kleśa) genannt und deren Wirkungsweise beschrieben. Danach kommt die Unterrichtung der fünf ersten Schritte des achtfachen Yogaweges, nämlich Yama, Niyama, Asanā, Prāṇāyāma und Pratyāhāra, mit deren Hilfe die Ursachen des Leidens angegangen werden können.

III. Vibhūti Pāda
Hier werden die anderen drei Glieder des achtfachen Yogas behandelt: Dhāraṇā, Dhyāna und Samādhi. Zudem wird sehr ausführlich die Erlangung verschiedenster übernatürlicher Fähigkeiten (siddhi) durch Konzentration, beschrieben.

IV. Kaivalya Pāda
Das letzte Kapitel ist weniger strukturiert und beschäftigt sich zum Teil mit bereits behandelten Themen, aber schließlich auch die Befreiung des Selbstes durch den Yoga.

Die im zweiten und dritten Kapitel beschriebenen acht (aṣṭā) Glieder (aṇga) des achtgliedrigen (aṣṭāṇga-) Yoga sind diese:

1.) yama (Verbote)
 
a)
ahiṃsā (Gewaltlosigkeit)
b) satya (Ehrlichkeit)
c) asteya (nicht stehlen)
d) brahmacarya (Keuschheit)
e) aparigrahā (Besitzlosigkeit)
2.) niyama (Gebote)
 
a)
śauca (Reinheit)
b) saṃtoṣa (Zufriedenheit)
c) tapasya (Askese)
d) svādyāya (Studium der Schriften)
e) īśvaraḥ praṇidhāna (Sich Gott ergeben)
3.)
āsana (Körperübungen)
4.) prāṇāyāma (Atemübungen)
5.) pratyāhāra (Zurückziehen der Sinne von den Sinnesobjekten)
6.) dhāraṇā (Konzentration, das Fixieren des Geistes)
7.) dhyāna (Meditation)
8.) samādhi (Trance)
(Yoga-Sutra 2;26 bis 3;3)


Patañjali hat mit seinem Yoga-Sūtra keinen Yoga nach einer bestimmten Technik gelehrt. Außerdem kannte Patañjali den heute verwendeten Begriff des Rāja-Yoga noch nicht. Vielmehr hat er hat das Prinzip des Yoga an sich beschrieben. Quasi die Theorie des Yoga bar jeder Füllung an Methode. Er hat einige Praxisbeispiele gegeben, durch die das Ziel erreicht werden kann, oder die zum Ziel hinführen:

tīvra-saṁvegānām-āsannaḥ ||21||
Durch intensive Praxis kommt dann das Ziel nahe. ||21||

mṛdu-madhya-adhimātratvāt-tato'pi viśeṣaḥ ||22||
Mild, maßvoll oder mächtig kann diese Praxis sein. ||22||

īśvara-praṇidhānād-vā ||23||
Auch durch Hingabe an ein ideal gedachtes Wesen (Ishvara) kann das Ziel erreicht werden. ||24||

tasya vācakaḥ praṇavaḥ ||27||
OM ist ein Symbol für Ishvara. ||27||

taj-japaḥ tad-artha-bhāvanam ||28||
Wiederholung (Japa) von OM mit diesem Sinn führt zur spirituellen Ausrichtung (Bhavana). ||28||

tataḥ pratyak-cetana-adhigamo-'py-antarāya-abhavaś-ca ||29||
Durch diese Praxis offenbart sich das unveränderliche Selbst und alle Hindernisse (Antaraya) lösen sich auf. ||29||

pracchardana-vidhāraṇa-ābhyāṁ vā prāṇasya ||34||
Das Ziel kann auch durch Atemübungen mit Ausatmen und Anhalten erreicht werden. ||34||

viṣayavatī vā pravṛtti-rutpannā manasaḥ sthiti nibandhinī ||35||
- Oder durch Kontemplation über Objekte und Eindrücke, was eine Stabilität und Bündelung des Geistes bewirkt. ||35||

viśokā vā jyotiṣmatī ||36||
- Oder durch Kontemplation auf das innere Licht, das frei von Leiden ist. ||36||

vītarāga viṣayam vā cittam ||37||
- Oder wenn das Wandelbare des Menschen (Chitta) nicht mehr die Gier zum Objekt hat. ||37||

svapna-nidrā jñāna-ālambanam vā ||38||
- Oder durch Wissen, das aus einem Traum im Schlaf entsteht. ||38||

yathā-abhimata-dhyānād-vā ||39||
- Oder durch Versenkung (Dhyānā) auf Liebe. ||39||

Hier sind neben den drei Yoga-Richtungen Karma-Yoga (Vers 37), Bhakti-Yoga (Verse 23 und 39) und Jñāna-Yoga (Vers 35) auch Jāpa- und Mantra-Yoga (Verse 27 und 28) sowie die Versenkung auf das innere Licht (Vers 36), was in etwa dem Krīya-Yoga entspricht, erwähnt. Diese Beispielsammlung ist nicht abgeschlossen, denn es gibt „unendlich“ viele Methoden.

Ca. ab dem 6. Jahrhundert n. Chr. wurden die verschiedenen Tantra-Yoga-Kulte groß. Das Augenmerk dieser Kulte lag auf dem subtilen Energiekörper mit seinen Cakras und Energiekanälen (nādis). Der entscheidende Aspekt des feinstofflichen Körpers ist sicherlich jene psychospirituelle Energie, die als Kundalinī-Śakti bezeichnet wird. Zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert n. Chr. stand der Siddha-Kult in seiner Blüte „und spielte eine wesentliche Rolle bei der Komplettierung der großen pan-indischen Synthese von spirituellen Lehren des Hinduismus, Buddhismus und Jainismus wie der yogischen Alchemie und volkstümlichen Magie.

Im Kreis des Siddha-Kultes wurde die körperfeindliche Sicht der alten und neueren Yoga-Upaniṣads abgelegt und es entwickelte sich ein Umgang mit dem menschlichen Körper, der geprägt ist von Sorgfalt und Pflege für den Körper. Etwa um das 10. Jahrhundert n. Chr. wurde auf der Grundlage dieser neuen Körperwahrnehmung der Hatha-Yoga begründet. „Die hinduistische Überlieferung verbindet die Erschaffung des Hatha-Yoga mit Gorakśa-Nātha und seinem Lehrer Matsyendra-Nātha, beide in Bengalen geboren.
Seit der Entstehung des Tantra wurde zwar der Yoga in seiner Grundlehre nicht verändert, aber die Fülle der yogischen Methoden wurde hier weiterentwickelt und ausgebaut.